Allgemeinmedizinische Forschung in Österreich
In der allgemeinmedizinischen Versorgung kann das gesamte Krankheitsspektrum der Bevölkerung einbezogen werden und Beobachtungen an Patient*innen erfolgen unter Alltagsbedingungen. Mit einer hohen Patient*innenorientierung kann letztlich die Routineversorgung optimiert werden.
In Österreich sind es meist die mit der täglichen Primärversorgung voll ausgelasteten Hausärzt*innen, die in ihrer Freizeit einzelnen wissenschaftlichen Fragen nachgehen. Es ist unumgänglich, die Rahmenbedingungen entsprechend anzupassen. Ein durch öffentliche Mittel bezahltes Netzwerk von Forschungspraxen ist – wie in Deutschland schon umgesetzt – zu etablieren; nur Forschung in der Primärversorung selbst kann die Situation ebendort für die Betroffenen abbilden.
Nach einem Vortrag vom November 1998; M. Maier;
Besondere Universitätseinrichtung Allgemeinmedizin, Universität Wien, Medizinische Fakultät
Wenn man zum Thema „Forschung im Fach Allgemeinmedizin“ generell und im Speziellen hinsichtlich der Situation in Österreich Stellung nehmen will, kommt man um einem Vergleich mit etablierten Disziplinen der biomedizinischen Wissenschaften nicht umhin. Dabei bewähren sich die simplen Fragen: Wer macht die Forschung? Wo wird sie durchgeführt? Wann, wie, warum und mit welchen Mitteln wird geforscht (Tabelle 1)?
BIOMEDIZINISCHE FORSCHUNG:
Etwas vereinfacht kann man behaupten, dass in den etablierten Disziplinen der Hauptteil der wissenschaftlichen „Knochenarbeit“ von Studenten während des Studiums oder von jungen Assistenten während ihrer postgraduellen Weiterbildungszeit unter fachkundiger Anleitung an den Forschungseinrichtungen der Universitätsinstitute oder Universitätskliniken geleistet wird; die Assistenten verbringen zusätzlich in der Regel einen mindestens 1-jährigen Aufenthalt, der durch ein Stipendium finanziert wird, an einer renommierten Forschungs-Einrichtung im Ausland. Dort wird die wissenschaftliche Tätigkeit ungestört und überwiegend „full time“ erbracht, während in Österreich nur selten die reguläre Arbeitszeit dafür ausreicht, weil Patientenbetreuung, Lehre und Administration im Vordergrund stehen. Die jungen Kollegen sind dabei meist Mitglied eines etablierten Teams von Wissenschaftlern mit einem Projektleiter und Supervisor; es wird mit bekannten und bewährten Methoden an Teilaspekten langfristiger Forschungsprojekte gearbeitet. Für diese Tätigkeit stehen auch Mittel für das gesamte Team bzw. für die einzelnen Projektleiter zur Verfügung, weil regelmäßig bei dafür zuständigen Institutionen Drittmittel rekrutiert werden – eine Tätigkeit, die ob ihrer Bedeutung und Schwierigkeit zu den Aufgaben des jeweiligen Projektleiters zählt. Neben dem notwendigen grundsätzlichen Interesse an Forschungsarbeit stellen zweifellos die von einer erfolgreichen wissenschaftlichen Tätigkeit abhängige universitäre Karriere und die damit verbundenen Anreize, wie Habilitation, internationale Anerkennung und Laufbahn sowie Primariat und Privatpraxis, eine große Motivation dar. Ganz wesentlich erscheint mir die Tatsache, dass in allen etablierten biomedizinischen Disziplinen die wissenschaftliche Ausbildung (Methoden, Statistik, Formulierung von Forschungsprojekten, Erstellen von Vorträgen etc.) an wissenschaftlichen Institutionen, insbesondere Universitätskliniken und Universitätsinstituten erfolgt, wobei diese Ausbildung mehrere Jahre dauert.
FORSCHUNG IM FACH ALLGEMEINMEDIZIN:
Eine internationale Analyse zeigt, dass auch im Fach Allgemeinmedizin der überwiegende Teil der wissenschaftlichen Publikationen an den entsprechenden Fachabteilungen der Universitäten erarbeitet und publiziert wird: Von einer Gesamtzahl von 470 publizierten Originalarbeiten im Fach Allgemeinmedizin stammen 213 von akademischen Abteilungen für Allgemeinmedizin und nur 34 von niedergelassenen Ärzten für Allgemeinmedizin. Dass die Situation in Österreich eine völlig andere ist, wird aus Abbildung 1 klar: Es sind von den täglichen Anforderungen der medizinischen Primärversorgung voll ausgelastete Hausärzte in Einzelpraxen, die in ihrer „Freizeit“ ohne Ausbildung, ohne Anleitung und ohne Ressourcen einzelnen wissenschaftlichen Fragen nachgehen. Es ist erstaunlich, dass trotz dieses „hobbymäßigen“ Vorgehens immer wieder bemerkenswerte Ergebnisse erreicht worden sind (z. Bsp. 1-7) – eine breite internationale Anerkennung ist jedoch ausgeblieben, weil die Anforderungen eines peer review-Journals hinsichtlich verwendeter Methoden, statistischer Auswertbarkeit und repräsentativer Ergebnisse zur Publikation meist nicht erfüllt werden können. Dies hat dazu geführt, dass es überhaupt keine international konkurrenzfähige, allgemeinmedizinische Forschungslandschaft gibt, ja gar nicht geben kann. Auch in einer etablierten Disziplin, zum Beispiel der Inneren Medizin, wäre es kaum möglich gewesen, die bahnbrechenden Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte (Rheumatologie, Gefäßbiologie, Onkologie, …) ausschließlich mit den Ressourcen (Know-how, Zeit, Geld) des niedergelassenen Bereiches, also der niedergelassenen Internisten, zu erzielen! Ebenso wenig wie die niedergelassenen Allgemeinmediziner wären auch niedergelassene Fachärzte dazu ausgebildet oder zeitlich in der Lage, Forschung in diesem Ausmaß und der notwendigen Qualität neben ihrem Broterwerb durchzuführen.
GEGEBENHEITEN IN ÖSTERREICH:
Analysiert man die Ursachen für diese beschämende und traurige Situation, muss man sich notgedrungen auch mit der wissenschaftlichen Ausbildung unserer Medizin-Absolventen beschäftigen. Während in der Vergangenheit nur jene interessierten Studenten wissenschaftlich ausgebildet werden konnten, die schon während ihres Studiums freiwillig an einem Universitäts-Institut an wissenschaftlichen Projekten mitgearbeitet haben, sieht das derzeitige medizinische Curriculum eine wissenschaftliche Ausbildung aller Medizinstudenten, insbesondere im sogenannten Wahlfach, vor. Diese Einrichtung, die einen Ersatz für die Dissertation darstellt, ermöglicht die vertiefte Ausbildung in einem Fach der eigenen Wahl, erfüllt ihre Aufgabe als Dissertationsersatz tatsächlich allerdings in keiner Weise. Die reizvolle Möglichkeit, schon während des Studiums an einem internationalen Austauschprogramm mit Schwerpunkt Wissenschaft teilzunehmen, wird von den Studierenden leider kaum wahrgenommen. Das gleiche gilt für die Möglichkeit, eine Dissertation als traditionellen Beweis der selbständigen, wissenschaftlichen Tätigkeit zu verfassen – ein Weg, der früher in Österreich für Mediziner überhaupt nicht existiert hat! Dies ist meines Erachtens ein folgenschwerer Fehler, der von der ärztlichen Standesvertretung durch das Beharren auf dem Doktortitel auch ohne verpflichtende Dissertation noch prolongiert wurde.
Die schon erwähnten Möglichkeiten für den in Weiterbildung stehenden Arzt für Allgemeinmedizin, im Rahmen eines Postdoctoral-Fellowships an einer in- oder ausländischen universitären Abteilung für Allgemeinmedizin wissenschaftlich zu arbeiten, existieren in Ermangelung inländischer universitärer Institute mit entsprechenden Assistentenstellen, die eine Bewerbung für solche internationale Fellowships überhaupt erst ermöglichen, ebenfalls nicht.
GEGEBENHEITEN IM AUSLAND:
Da das Fach Allgemeinmedizin mit seinen Aufgaben in der Primärversorgung nun nicht mit hoch spezialisierten Universitätskliniken, die über Forschungslabors für Grundlagenforschung u. ä. verfügen, verglichen werden kann, wurden im Ausland für das Fach Allgemeinmedizin Strukturen geschaffen, die langfristig sehr wohl eine wissenschaftliche Ausbildung ermöglichen: Universitäre Abteilungen für Allgemeinmedizin, Forschungsschwerpunktpraxen und Research Networks. Eine solche „akkreditierte Forschungspraxis“ arbeitet eng und kontinuierlich mit der zuständigen universitären Abteilung für Allgemeinmedizin zusammen und muss eine Gruppenpraxis mit qualifizierten Partnern sein. Für die Forschungsarbeit muss notwendiger Zeit- und Platzbedarf definiert und sichergestellt sein. Weiters wird von solchen akkreditierten Praxen ein Bekenntnis zur Qualitätssicherung verlangt und eine Form der Patientenregistrierung, die es ermöglicht, die Gesamtpatientenanzahl pro Jahr und damit einen definierten Denominator für alle Untersuchungen zu haben.
Akkreditierte Forschungspraxen sind überregional durch Netzwerke mit anderen Forschungspraxen verbunden: Hhier sollen qualitativ hochwertige Forschung betrieben, Research skills vermittelt und publizierbare Daten und Ergebnisse erreicht werden. Die geographische Verteilung dieser Forschungspraxen muss ausgeglichen sein; sie werden von universitären Stellen oder vom nationalen Gesundheitssystem (Großbritannien) mit einem speziellen Budget dotiert. Ein solches Netzwerk von Forschungsschwerpunktpraxen, die mit einem universitären Institut für Allgemeinmedizin eine funktionelle Einheit bilden, erleichtert zweifellos jede Art von sinnvollen wissenschaftlichen Studien, insbesondere solche auf dem Gebiet der Epidemiologie. Weiters sind solche Netzwerke auch gut geeignet, an großangelegten Clinical Trials für die Praxis teilzunehmen und bieten eine sehr gute Möglichkeit, junge Kollegen mit den Methoden und Werkzeugen dieser Art von Forschung bekannt zu machen.
LÖSUNGSVORSCHLAG:
Mein Lösungsvorschlag für das multifaktorielle Problem der allgemeinmedizinischen Forschung in Österreich sieht ein schrittweises Vorgehen vor: Realistisch betrachtet muss am Anfang die Identifizierung und das Aufzeigen der Probleme stehen; dann muss das angestrebte Ziel definiert werden; um dieses Ziel zu erreichen, sind in der Regel verschiedene Erfordernisse zu erfüllen; um diese Voraussetzungen erfüllen zu können oder erfüllt zu bekommen, muss dafür geworben, argumentiert und gekämpft werden. Wenn einmal diese Voraussetzungen für adäquate Forschungsbedingungen geschaffen sind, dann ist es relativ einfach, eine Studie zu beginnen.
Wenn ich diesem schrittweisen Vorgehen folge, dann sind die ausstehenden Probleme identifiziert und die Ziele definiert. Es geht jetzt also um die Erfüllung einiger wesentlicher Voraussetzungen für sinnvolle Forschung im Fach Allgemeinmedizin. Dazu gehört meines Erachtens insbesondere die Gruppenpraxis, das Listensystem, Universitäre Abteilungen für Allgemeinmedizin mit entsprechender personeller Ausstattung und vor allen Dingen eine wissenschaftliche Grundausbildung jedes einzelnen Absolventen bzw. zukünftigen Assistenten. Es ist meine feste Überzeugung, dass es letztendlich schneller zum Ziel führt, wenn man sich für die Erfüllung dieser Voraussetzungen Zeit nimmt, als wenn man darauf verzichtet und planlos vorgeht oder weiterhin im Stile von Einzelkämpfern mühevoll einige Daten in einer Solopraxis erhebt, die sich dann anschließend als nicht publizierbar herausstellen.
Parallel zu den schrittweisen Anstrengungen, die optimalen Voraussetzungen für allgemeinmedizinische Forschung in Österreich langfristig zu erreichen, sollten schon jetzt Netzwerke von forschungsinteressierten Kollegen im kleinen Rahmen gebildet werden und sollte alles unternommen werden, um diese Kollegen auf Kommendes vorzubereiten und sie für ihre Forschungstätigkeit konsequent auszubilden. Dies könnte z. B. durch Schulungen, Kurse und ähnliche Info-Veranstaltungen erfolgen. Andererseits sollten auch unentschlossene Kollegen durch geeignete Maßnahmen erfasst und informiert sowie zur Mitarbeit an langfristigen Forschungsprojekten motiviert werden.
Es gibt derzeit einige Rahmenbedingungen, auf die ich hinweisen möchte, weil sie die Situation der allgemeinmedizinischen Forschung in Österreich verbessern helfen. Es sind dies zum einen das Universitätsstudiengesetz, das für den Abschluss eines der Diplomstudien, zu denen auch das Medizinstudium gehört, eine Diplomarbeit vorsieht und auch für Mediziner ein anschließendes Doktoratsstudium mit Dissertation ermöglicht. Da sich die Wiener Fakultät bereits festgelegt hat, kann davon ausgegangen werden, dass in Hinkunft alle Absolventen des Medizinstudiums in Wien zumindest unter Anleitung (Diplomarbeit) wissenschaftlich gearbeitet haben und damit wichtige Grundkenntnisse erworben haben. Des weiteren ist der derzeitige Trend zur „Evidence Based Medicine“ oder zu „Outcome-orientierten Studien“ zweifellos eine positive Voraussetzung für Studien gerade im Fach Allgemeinmedizin. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Rahmenprogrammen der Europäischen Union zur Forschung und Entwicklung wieder, sowie in den Empfehlungen wissenschaftlicher Forschungsförderungs-Organisationen, die angewandte und problemorientierte Forschung vermehrt zu fördern. Diese günstigen Rahmenbedingungen müssen genutzt werden!
LITERATUR:
- Braun RN; Lehrbuch der Allgemeinmedizin, 1986, Verlag Kirchheim + Co GmbH, Mainz
- Landolt-Theus P, Danninger H, Braun RN; Kasugraphie, Benennung der regelmäßig häufigen Fälle in der Allgemeinpraxis, 1992, Verlag Kirchheim + Co GmbH, Mainz
- Tönies H; Entscheidungen in der Allgemeinpraxis, Die Medizin der Symptome, 1993, Springer Verlag, Wien New York
- Maier M, Rothe G, Sellner C, Tutsch G, Zapotocky P: Die Famulatur im Fach Allgemeinmedizin, Zeitschrift für Hochschuldidaktik, Beiträge zu Studium, Wissenschaft und Beruf, 20. Jahrgang, Heft 3-4/1996
- Fink WV, Danninger H, Maier M; Type and value of questions asked upon the request for a home visit. Family Practice 1997, Vol 14, No. 1, (Abstr.)
- Mezgolich W, Maier M, Kamensky G; Social consequences for women with newly detected breast cancer, Family Practice 1997, Vol. 14, No. 2, (Abstr.)
- Kamenski G; Survey of patients requiring home care, Family Practice 1997, Vol. 14, No. 5, (Abstr.)
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